Flechten

„Das armseligste Volk unter den Pflanzen“ hat der schwedische Naturforscher Carl von Linné (1707-1778) die Flechten genannt. Zu Unrecht, denn bei genauerem Hinsehen entfaltet sich ein faszinierender Mikrokosmos.

In den letzten Jahren fallen an unseren Obstbäumen verstärkt graue oder gelbe Überzüge auf. Im Jahresheft 2013 wurden die bunten Rindenbeläge mit Luftalgen und Krustenflechten beschrieben. Neben den Krustenflechten, die eng an den Untergrund angepresst sind, gibt es noch die Wuchsformen der Blattflechten (Bsp. Abb 2, 4-8) und der Strauchflechten (z.B. Evernia prunastri Abb 1).

Abb.1 Das Eichenmoos oder Pflaumenflechte (Evernia prunastri) ist die häufigste Strauchflechte in den Streuobstwiesen. Sie wächst auf saurer Rinde und ist hier nicht nur an Pflaumenbäumen (Name!) anzutreffen, sondern auch an Birnbaum, Kirsche und in geringerem Maße auch an den übrigen Obstbaumarten. In der Parfümindustrie spielt die Flechte aufgrund der enthaltenen Geruchsstoffe (Mousse odorante) auch heute noch eine wichtige Rolle. Sie wird unter anderem in Südfrankreich in großem Stil von Hand geerntet. (Foto: Windisch)

Abb.2 Die leicht saure Rinde des Kirschbaums wird von zahlreichen Blattflechtenarten besiedelt (Foto: Vorbeck).

Eine Flechte sieht zwar aus wie ein einheitlicher Organismus, besteht aber aus einem Pilz und einem Partner, der Photosynthese betreiben kann, z. B. einer Alge. Die Alge gibt die gewonnenen Kohlenhydrate an den Pilz ab. Der Pilz hingegen ummantelt die Alge mit Hyphen (Pilzfäden) und schützt den Flechtenkörper. Durch diese Lebensgemeinschaft können Flechten sich zwar extreme Lebensräume erschließen, sind aber sehr sensibel gegenüber Umweltveränderungen.

Eine Flechte kann sich sexuell und vegetativ vermehren. Bei der vegetativen Fortpflanzung werden Gewebe von Pilz und Algen zusammenhängend verbreitet. Entweder brechen dabei kleine stiftförmige Auswüchse (Isidien) vom Lager der Flechte ab, oder es werden in Aufbrüchen (Soralen) an der Oberseite die sogenannten Soredien produziert. Aus diesen kleinen Algen-Pilzpaketen können sich neue Flechten bilden. Zur sexuellen Fortpflanzung ist nur der Pilzpartner befähigt. Dazu werden in den Fruchtkörpern (Apothecien, Abb. 3) Pilzsporen produziert, die über die Luft verbreitet werden.

Abb 3: Schematischer Schnitt durch eine Flechte (NABU Lörrach)

Die hohe Empfindlichkeit der Flechten gegenüber Luftverunreinigungen wird z. B. zur langfristigen Dokumentation von Immissionswirkungen genutzt. Die VDI Richtlinie 3957 beschreibt dazu eine standardisierte Erfassungsmethode, bei der auch Obstbäume verwendet werden. Die epiphytischen Flechten sind aber auch empfindliche Messorganismen für eine Vielzahl weiterer ökologischer Faktoren. Die gezielte Erfassung und Auswertung der Flechtenvegetation kann u. a. Auskunft geben über Luftfeuchte, Eutrophierung, Pestizideinsatz oder Kaltluftabflüsse. Die Veränderung des Flechtenartenspektrums kann sogar als Frühwarnsystem für den Klimawandel dienen (Windisch et al. 2011, 2014).

Da Flechten als Indikator sehr viele verschiedene Aspekte integrieren, werden sie von TREMP als Indikator für eine naturnahe Bewirtschaftung von Streuobstbeständen empfohlen (NABU 2013). Er geht davon aus, dass sämtliche aus naturschutzfachlicher Sicht günstige Wirtschaftsweisen zu höherem Flechtenreichtum führen. So erhöht sich die Artenzahl z.B. je mehr verschiedene Obstarten in verschieden Altersstufen auf einer Fläche zu finden sind.

Hochstämme weisen mehr Flechten auf, als Niederstämme und selbst die notwendigen Auslichtungsschnitte fördern die lichtbedürftigen Flechten.

Abb.4 Zarte Schwielenflechte (Physcia tenella). Charakteristisch sind die sehr schmalen an den Enden aufsteigenden Läppchen mit kräftigen, abstehenden Wimpern sowie hellen Aufbrüchen (Sorale). In Streuobstwiesen bildet die Zarte Schwielenflechte zusammen mit der ähnlichen Helm-Schwielenflechte (Physcia adscendens) auf nährstoffreichen Obstbaumrinden dichte Rasen. Auf Apfelbäumen ist sie sehr häufig. (Foto: Windisch)

Der Rückgang der sauren Schadgase, insbesondere des Schwefeldioxids in den letzten 30 Jahren hat maßgeblich zur Zunahme des Flechtenbewuchses beigetragen. Gleichzeitig sorgen aber düngende Immissionen wie Stickstoffoxide, Ammoniak und Stäube für eine Verschiebung des Artenspektrums hin zu eutrophierungstoleranten Arten wie z.B. Phaeophyscia orbicularis (Abb. 5) oder Xanthoria parietina (Abb.6). Langzeituntersuchungen zeigen, dass wärmeliebende Arten in ihrem Bestand zunehmen oder sogar neu zuwandern (Windisch et al. 2011, 2014).

Abb.5 Die schmalen Lappen der Gewöhnlichen Schwielenflechte (Phaeophyscia orbicularis) liegen sehr eng an. Auf der Oberseite stehen fleckförmige Aufbrüche (Sorale). Die Art bevorzugt nährstoffreiche, staubimprägnierte Rinden und ist auf Apfel und Walnuß häufig zu finden. (Foto: Vorbeck)

Streuobstwiesen bieten Rindenflechten ein vielfältiges Mosaik von Kleinstlebensräumen.

Schon alleine die unterschiedlichen Strukturen an einem einzigen Obstbaum bieten den sensiblen Lebewesen zahlreiche Nischen. So finden sich oft unterhalb von größeren Wunden eher eutrophierungstolerante Arten wie z. B. die Gewöhnliche Schwielenflechte (Abb. 5). Arten mit höheren Feuchtigkeitsansprüchen siedeln sich verstärkt im Stammabflussbereich an und vermischen sich dort oft mit Moosen.

Auf der schuppigen Rinde der Apfelbäume wachsen nährstoffliebende und schnellwüchsige Arten wie z.B. die Zarte Schwielenflechte (Abb. 4). Kirschbäume werden von Flechten bewachsen, die saureren Untergrund und relative Nährstoffarmut ertragen wie z.B. die Blasenflechte (Abb.1, 7). In den feuchten und schattigen Borkenrissen von Birn- und Walnussbäumen wachsen anspruchslose Krustenflechten.

Gelbe Flechten wie z.B. die gelbe Mauerflechte Xanthoria parietina (Abb. 6) findet sich auf Rinden mit hohem pH Wert, wie die Walnuß. Ein verstärktes Auftreten, oft gemeinsam mit anderen gelben Flechten weist auf erhöhte Nährstoff- und Staubeinträge hin. In Kalkgebieten ist sie natürlicherweise häufig und kann alle Obstbäume mit einem auffälligen gelben Überzug zieren.

Abb.6 Die gelbe Mauerflechte Xanthoria parietina findet sich auf nährstoff- und basenreichen Rinden. Häufig ist sie auf Walnuss. Die schüsselförmigen Fruchtkörper (Apothecien) dienen der Sporenbildung des Pilzes (Foto: Vorbeck)

Insbesondere kümmernde Obstbäume sind oft mit einem dichten Teppich an Flechten überzogen. Der Bewuchs wird daher mitunter als Ursache für das Kränkeln des Baumes gesehen. Allerdings ist der starke Bewuchs nur eine Folge des langsamen Wuchses des Baumes und der günstigen Lichtverhältnisse. Flechten schaden den Obstbäumen nicht, sondern sitzen lediglich der äußeren Borke auf. Sie beziehen Wasser und Nährstoffe ausschließlich aus den Niederschlägen und der Umgebungsluft.

Das Abkratzen des Flechtenbewuchses bringt also keinen Vorteil. Im Gegenteil, der Flechtenbewuchs bietet dem Baum einen natürlichen Sonnenschutz und beherbergt eine Vielzahl von tierischen Rindenbewohnern wie z.B. Raubwanzen. Zudem sind zahlreiche Flechtenarten mittlerweile sehr selten geworden.

Obstwiesenbesitzer sollten sich also über einen üppigen Flechtenbewuchs ihrer Bäume freuen! Er ist ein Teil der immensen Biodiversität unserer Obstwiesen.

Abb.7 Die Lappen der Blasenflechte (Hypogymnia physodes) wirken wie „aufgeblasen“. Die Unterseite ist dunkelbraun bis schwarz und frei von Haftfasern. Foto: Windisch)

In Streuobstwiesen kommt die Blasenflechte an den Obstbaumarten mit saurer Borke vor. Dies sind Kirsche, Birne und Zwetschge. Mit zunehmendem Eintrag von Nährstoffen in Streuobstwiesen geht die Art in ihrem Bestand zurück.

Abb.8 Die Sulcatflechte (Parmelia sulcata) hat relativ große graue, lang gestreckte Lappen. Auf der Oberseite finden sich strichförmige Adern (Sorale), die später körnig aufbrechen. Die Unterseite ist schwarz und bis zum Rand mit schwarzen Haftfasern besetzt. Die Sulcatflechte entwickelt sich sehr gut an schwach sauren, nährstoffreichen Rinden. Sie ist in den Streuobstwiesen sehr häufig und besiedelt alle Obstbaumarten. (Foto: Windisch)

Literatur:

Kirschbaum, U.; Wirth, V. (2010): Flechten erkennen - Umwelt bewerten. Wiesbaden: Hessisches Landesamt für Umwelt und Geologie.

Naturschutzbund Deutschland (NABU) (2013): Streuobst-Rundbrief 1/13: „Flechten als Indikatoren für naturnahe Bewirtschaftung der Streuobstbestände“.

VDI 3957 Blatt 13 (2005): Biologische Messverfahren zur Ermittlung und Beurteilung der Wirkung von Luftverunreinigungen mit Flechten (Bioindikation). Kartierung der Diversität epiphytischer Flechten als Indikator für Luftgüte. In: VDI-Handbuch Reinhaltung der Luft 1a.

Windisch, U.; Vorbeck, A.; Eichler, M.; Cezanne, R. (2011): Untersuchung der Wirkung des Klimawandels auf biotische Systeme mittels Flechtenkartierung in Bayern.: Bayerisches Landesamt für Umwelt (Hrsg.).

Windisch, U., Cezanne, R., Eichler, M. 2014: Dauerbeobachtung von Flechten in Hessen 2012. Hessisches Landesamt für Umwelt und Geologie (Hrsg.).

NABU Lörrach: Link